Wenn Kindheitsschmerz zum Durchgangstor wird

Vor wenigen Tagen habe ich diese E-Mail als Reaktion auf mein Buch über die Vaterliebe Gottes bekommen:

„Ich habe in meinem Leben, ich bin 58 Jahre, ja schon so einiges an Büchern gelesen … aber noch nie … wirklich nie … habe ich so viel weinen müssen wie bei dem Lesen von diesem Buch, und ich bin erst auf Seite 55 … also noch nicht mal die Hälfte geschafft.“

Ich war mir erst nicht sicher, ob ich mich über diese Rückmeldung freuen sollte. Es ist absolut nicht mein Ziel, Menschen mit der Botschaft von der Vaterliebe Gottes in ein Meer von Tränen zu schicken. Aber gleichzeitig weiß ich aus eigener Erfahrung wie heilsam es ist, durch den Schmerz der eigenen Vatererfahrung hindurch in die Arme unseres himmlischen Vaters zu gehen.

Obwohl ich in vieler Hinsicht aus einer intakten christlichen Familie komme, schlummerte viel Schmerz auch tief in mir. Äußerlich konnte man ihn vielleicht an meiner Unsicherheit ahnen, die ich in manchen Lebensbereichen hatte. Doch ich bekam mein Leben auf die Reihe, diente sieben Jahre als Pastor einer kleinen evangelikalen Gemeinde und hatte eine wunderbare Frau gefunden.  In unserem Hunger nach mehr von Gott waren wir 2001 auf eine „Schule des Herzens“ nach Toronto (TACF) gegangen. Dort hatte Abba-Gott etwas für mich vorbereitet, womit ich nie gerechnet hätte.

Paul and Heather Jackson lehrten eine Woche über unsere Vatererfahrung und die Vaterliebe Gottes. Ich fand alles gut, doch es betraf mich scheinbar nicht. Mein Vater war ein ordentlicher Mann, ein echtes Vorbild in seinem Leben für Gott und den Dienst in der Gemeinde. Es gab bei ihm keine der zerstörerischen Dinge wie Alkoholismus, Wutausbrüche oder Gewalt, von denen ich in der Lehre und den Zeugnissen hörte. Trotzdem nahm ich am letzten Tag Gebet von meinem damaligen Kleingruppenleiter, Stephan Krüger (heute Awake Europe), in Anspruch.

Ich spürte körperlich etwas von der freundlichen Gegenwart Gottes im Gebet auf mich kommen. Also suchte ich mir ein ruhiges Plätzchen auf dem Teppich, um dieser Präsenz mehr Raum zu geben. Was dann geschah, konnte ich erst absolut nicht verstehen: Ein abgrundtiefer Schmerz kam in mir hoch. Schluchzen, das mir die Kehle zusammen schnürte, ein Schmerz aus den tiefsten Abgründen meiner Seele, von dem ich bis dahin nicht die geringste Ahnung hatte. Tränenbäche liefen mir aus den Augen, so dass ich auf dem Teppich unter mir zwei nasse Flecken produzierte, so groß wie Untertassen. (Erst Tage später begriff ich voll, dass es die Trauer und Verzweiflung über all die Momente meiner Kindheit waren, in denen mein Vater mich aufgrund eignen Mangels nicht hatte ermutigen, stärken oder nur freundlich berühren können.)

Ein Mitarbeiter segnete mich nach einer Zeit dort auf dem Teppich mit dem Frieden Gottes und die Tränen ließen nach. Und plötzlich stieg ein Gebet in mir auf. Das tiefste Gebet, dass ich trotz jahrelangen pastoralen Dienstes  jemals gebetet hatte: „Father, I Love you – Vater, ich liebe dich.“ Es fing mit Schmerz an, aber es führte in eine tiefe Liebesbeziehung zu Gott dem Vater voller Trost, Freude und Abendteuer.

Heute habe ich eine wunderbare Beziehung zu meinem irdischen Vater und erlebe, wie die Beziehung zu meinem himmlischen Papa auch nach 16 Jahren immer noch tiefer wird. Die E-Mailschreiberin habe ich ermutigen können: „Nach den Tränen wird das Lachen der Kinder Gottes kommen.“ Soweit hatte sie im Buch nur noch nicht gelesen. Der Schmerz ist nur ein Durchgangstor, um zutiefst geliebt leben zu können.

TEXT: Marcus Heuser (Alive-Ministries.de)