100 Jahre Berliner Erklärung

Erhausener Tagung um Geschichtsaufarbeitung bemüht

„Die Kirche des 21. Jahrhunderts wird eine charismatische Kirche sein oder überhaupt keine Kirche!“, so der ehemalige Seminardirektor von Beröa/Erzhausen, Richard Krüger, auf dem ersten gemeinsamen Symposium des Interdisziplinären Arbeitskreises Pfingstbewegung und des Vereins für Freikirchenforschung e.V. am 27. März 2009.

Die von mehr als 100 Dauerteilnehmern und zusätzlichen Tagesgästen besuchte Fachtagung beschäftigte sich schwerpunktmäßig mit der „Altlast“ der am 15. Sept. 1909 unterzeichneten Berliner Erklärung, in der primär Pietisten (modern ausgedrückt: Evangelikale) die neue Zungenbewegung (Pfingstbewegung) stark kritisiert und als „von unten“ bewertet hatten.

Im ersten Beitrag stellte Dr. Paul Schmidgall den pfingstlichen Aufbruch als Avantgarde dar – „seiner Zeit voraus“ – was somit zwangsläufig auf Unverständnis im Deutschland des beginnenden 20. Jahrhunderts stoßen musste. Richard Krüger konnte jedoch von dem erfreulichen Annäherungsprozess zwischen Evangelikalen und Pfingstlern in den vergangenen Jahrzehnten berichten. Durch reichlich belegtes Quellenmaterial warb Werner Beyer um Nachsicht für damalige Kritiker der neuen Pfingstbewegung. Es waren u.a. Evangelisten, durch deren Dienst z. B. in Pommern blühende Gemeinden entstanden waren, die nun aufgrund von Uneinigkeit, Zweistufendenken (Wiedergeburt:Geistestaufe) und Überheblichkeit (angeblich bei den neuen Geisterfüllten) zu zerbrechen drohten …

Ein Identitätsprofil des Mülheimer Verbandes (älteste deutsche Pfingstbewegung) skizzierte ihr Präses, Ekkehart Vetter. Nachdem der Verband in den 90er Jahren eine Talsohle erreicht hatte, zeichne sich jetzt – so Vetter – wieder Gemeindewachstum ab.

Forschungsberichte

· Besonders der Interdisziplinäre Arbeitskreis Pfingstbewegung (www.glopent.net/iak-pfingstbewegung) stellt auf seinen Tagungen jeweils neue Forschungsergebnisse vor. Diesmal beleuchtete Lic. Gottfried Sommer die Belowianer, eine Gruppe lutherisch Erweckter mit „pfingstähnlichen“ Phänomenen – und das bereits im 18. und 19. Jahrhundert.

· Dr. Thorsten Storck analysierte die freikirchliche „Taube“ in Heidelberg. Die drei wichtigsten Teile des Gemeindegottesdienstes seien Lobpreis, Predigt und Geistesgaben. Für Storcks ethnologisch-soziologische Studien erwies sich auch die Medienarbeit der „Taube“ als sehr ergiebig.

· Dr. Roswitha Gerloff wies darauf hin, dass fast ein Drittel der Christenheit heute pfingstlich-charismatisch geprägt sei und dass davon wiederum mehr als zwei Drittel nicht weiß sind.

Kirchengeschichtliche und konfessionskundliche Perspektive

Mit Prof. em. Dr. Erich Geldbach („Aktion und Reaktion in den Freikirchen auf die Kasseler Ereignisse“ [von 1907]) und dem pfingstlerischen Theologieprofessor an der Freien Universität Amsterdam, Dr. Cornelis van der Laan („Repercussions of the Berlin Declaration in the Netherlands“ – ein in Englisch gehaltenes Referat über die Nachwirkungen der Berliner Erklärung in den Niederlanden) endete der erste Studientag.

Überraschend stellte Prof. Bergunder vom missionswissenschaftlichen Institut der Universität Heidelberg noch eine Frage in die Runde: „Was war denn eigentlich das Schreckliche an den Kasseler Ereignissen, was es nicht auch bei anderen erwecklichen Aufbrüchen gegeben hat?“ Es scheint, dass die Gemeinschaftsbewegung sowie auch die damals erst seit wenigen Jahrzehnten offiziell erlaubten Freikirchen ihre gesellschaftliche und kirchliche Anerkennung nicht aufs Spiel setzen wollten.

Aspekte systematischer und interkultureller Theologie

Am zweiten Tag des Symposiums weitete sich das Spektrum in theologischer Hinsicht: Prof. Dr. Terry Cross (Cleveland/Tennessee) untersuchte die Frage: „Sind Pfingstler Evangelikale?“ und beantwortete das recht „differenziert“ mit ‚Ja und Nein’. Die Pfingstbewegung entstamme nicht dem historischen Strom der amerikanischen Fundamentalisten, doch hätten Radiosendungen der leitender Männer jener Geistesströmung viele Pfingstler beeinflusst. In den 40er Jahren habe ein Großteil der nordamerikanischen Pfingstler Aufnahme in der Evangelischen Allianz gefunden. Seit jener Zeit seien evangelikale Lehrbücher mehr und mehr zum Standard in pfingstlichen Ausbildungsstätten geworden.

In letzter Zeit werde jedoch diese Entwicklung besonders von akademischen Geistlichen der Pfingstbewegung hinterfragt. Das evangelikale Schriftverständnis erscheine zu kopflastig. Die Ekklesiologie sei in beiden Lagern noch zu wenig ausgeprägt, bedingt durch die individualistische Betonung von Bekehrung und geistlichen Segnungen.

Ein besonders inspirierender Beitrag kam von Frau Dr. Claudia Währisch-Oblau. Sie sprach über „Evangelikalismus und Pfingstbewegung in der Identitätspolitik pfingstlich/charismatischer MigrantInnen“ (vgl. dazu auch ihren Beitrag in Charisma 146).

Daniel Frei von der Universität Basel gab den Teilnehmern Einblick in Sozialisationsprozesse im chilenischen Pentekostalismus. Und zwar untersuchte er diese aus ekklesiologischer und gemeindepädagogischer Perspektive.

Dr. Moritz Fischer, Neuendettelsau, vermittelte einige Forschungsergebnisse im Zusammenhang mit seiner Habilitationsschrift. Dabei spürt er den Einflüssen der Latter Rain-Bewegung besonders in der südlichen Hemisphäre nach. Seiner Meinung nach kam es durch das Auflodern dieser kontroversen Bewegung im Jahr 1948 zu einem enormen weiteren Schub innerhalb des pfingstlich-charismatischen Aufbruchs.

Katharina Davis von der Universität Heidelberg behandelte „Das Wohlstandsevangelium in der tansanischen Pfingstbewegung“.

Podiumsdiskussion

In der abschließenden Podiumsdiskussion (Prof. Dr. Michael Plathow, Prof. Dr. Michael Bergunder, Dr. Reinhard Hempelmann, Dr. Rolf Hille sowie der Präses der Mülheimer Verbandes E. Vetter und der Vize-Präses des BFP, Günter Karcher) wurden noch einmal die Verwerfungen und Verletzungen bedauert, welche die Berliner Erklärung hervorgerufen hat. Hempelmann forderte auf, einerseits die Pfingstbewegung nicht zu pathologisieren, andererseits aber auch eine Konzentration auf Wunder und Ekstase zu vermeiden. Hille wünschte sich noch mehr echte Geistwirkungen in der Pfingstbewegung – mehr Wunder und Heilungen, die nachweislich geschehen. Das würde überzeugen!

Wie immer zählten die „Begegnungen am Rande“ zu den wichtigsten vertrauensbildenden Maßnahmen.

Alle Beiträge werden im Jahrbuch 2009 des Vereins für Freikirchenforschung dokumentiert, das ab Frühjahr 2010 über den Buchhandel oder direkt beim Verein erworben werden kann (www.freikirchenforschung.de). Auf der VFF- und der IAKP-Website können weitere Berichte über das Symposium nachgelesen werden.
Gerhard Bially (Hrsg. der Zeitschrift „Charisma“)
P.S.: Ausführlicher werden wir auf einige Inhalte dieser Tagungin der Herbstausgabe von Charisma – come Holy Spirit eingehen.
Teens Conference(zur Nachricht vom 4.9.2009)