Ohne prophetische Offenbarung verwildert das Volk

Vor einigen Jahren hatte ich einen Traum: Ich bin in einem Stadtviertel unterwegs, das von Neonazis kontrolliert wird. Sie kontrollieren die Geschäfte, regeln den Verkehr, führen Passanten über die Straße. Sie demonstrieren Präsenz mit ihren Springerstiefeln, Bomberjacken und Glatzen. Ihr scheinbar freundliches Benehmen gegenüber den Passanten kann über das martialische Auftreten nicht hinwegtäuschen. Ihre Strategie ist Einschüchterung. Die Szenerie hat etwas Unheimliches. Schließlich komme ich auf einen Platz. Hier steht etwas wie ein Tempel, offen, ohne Wände, aber doch in sich geschlossen, mit Stufen und Säulenhalle im Inneren. In dem Tempel befindet sich eine Statue. Sie stellt den Satan dar: mächtig, mit grinsender Visage. Alle, die ein und aus gehen, huldigen ihm. Es herrscht reger Betrieb. Ich gehe umher und entdecke etwas in einer verschwiegenen Ecke: Da steht etwas erhöht eine kleine Marienfigur mit dem Jesuskind auf dem Arm. Unbemerkt vom allgemeinen Tempelbetrieb haben sich hier einige wenige Menschen versammelt. Und sie singen: “Jesus Christus ist der Herr! Jesus Christus ist der Herr!” Ich schließe mich ihnen an, singe mit. Allmählich werden es mehr. Dann passiert etwas: Mit lautem Getöse stürzt das Standbild Satans von seinem Sockel, fällt zu Boden und zerbricht in tausend Trümmer. Die Menschen geraten in Verwirrung. Schließlich zerfällt der ganze Tempelbau. Alles gerät aus den Fugen. Ich wache auf – Gott sei Dank.

Was mich am meisten an diesem Traum beunruhigt, ist die allgemeine Gleichgültigkeit und Arglosigkeit, die im Volk auf weiten Strecken herrscht. Man huldigt weiterhin bedenkenlos den Götzenbildern. Nichts ist wichtiger als Karriere, sozialer Aufstieg, Geld verdienen und in maßloser Völlerei alles Verfügbare an sich zu raffen und zu konsumieren. Inzwischen versinkt unsere Welt im Dreck, und finstere Gestalten ziehen unbehelligt mordend durch die Lande und scharen gut vernetzte Gefolgschaften um sich. Wir leben in einem Gefüge von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Abhängigkeiten, aus dem niemand aussteigen kann, ohne sein eigenes Lebensgefüge ins Wanken zu bringen. Dieses System, das in der Bibel je nach geschichtlichem Hintergrund “Ägypten” oder “Babylon” oder “Rom” genannt wird, hat sich mittlerweile derart aufgebläht, dass, wenn ein Element ausfällt, die ganze Blase platzen kann. Deshalb müssen wir alles tun, um den Betrieb am Laufen zu halten. Letztlich bedeutet das nichts anderes, als dem Standbild des Satan zu huldigen. Wir haben große Angst vor einem Zusammenbruch unseres Weltgefüges. Nicht selten sind die Ausbeuter auch die Ausgebeuteten und umgekehrt. Wir opfern uns bereitwillig auf dem Altar der Leistungsgesellschaft, weil wir glauben, dass wir dem System unsere Existenz verdanken. Wo der Geist verwahrlost, macht sich der Ungeist breit. “Ohne prophetische Offenbarung verwildert das Volk; wohl ihm, wenn es die Lehre bewahrt” (Spr 29,18). Menschen, die die Beziehung zum Schöpfer zerrissen und den Ausblick auf seine Verheißungen verloren haben, sinken zurück ins uranfängliche Chaos. Und weil sich auch der Satan als Engel des Lichts tarnt (2Kor 11,14), hängen sie jeder vorgeblichen Lichtgestalt an den wohlgeformten Lippen, ohne zu erkennen, wem sie da auf den Leim gehen.

Mein Traum hat mir aber auch Hoffnung gegeben: Unbemerkt von der allgemeinen Aufmerksamkeit, in einer verschwiegenen Ecke und doch mitten im Geschehen hält eine unscheinbare stille Frau den orientierungslosen Menschen ein kleines Kind hin. Reich Gottes wächst im Verborgenen. Am Anfang merken vielleicht nur einige wenige etwas davon, nach und nach werden noch ein paar mehr darauf aufmerksam. Es sind Menschen, die genügend Freiraum haben, um auf den aufmerksam zu werden, der mitten unter uns steht, den wir nicht kennen (Joh 1,26). Und sie erkennen in ihm den in aller Einfachheit menschgewordenen Gottessohn, der gekommen ist, die Macht des Satans zu brechen und die Menschen aus der Hand der Sklaventreiber zu befreien. Er gibt dafür sein eigenes Leben. In dem Moment, in dem sie ihn erkennen und als ihren Herrn bekennen, kann der Bann gebrochen werden. In dem Maß, in dem sich die Menschen Gott zuwenden und ihn als Herrn anerkennen, wird die Macht Satans geschwächt; er stürzt von seinem Sockel und zerbricht. Spätestens jetzt erweist er sich als irreale tote Substanz, die im Sturz zerbröselt. Das System fällt auseinander. Hatten wir nicht genau davor Angst? Mein Traum hat mich im spannendsten Moment verlassen. Wie geht die Geschichte weiter? Ich glaube, das einzige Gegengewicht zu destruktiven, finsteren Ideologien ist ein gesunder, selbstbewusst praktizierter Glaube an Gott, dem seine Welt nicht gleichgültig ist, der ein Interesse an den Menschen hat, und der selbst Mensch geworden ist in Jesus Christus. Und ist nicht genau das der Stachel im Fleisch des Systems, der Ausgangspunkt von dem aus sich die Wende ereignen kann? Wenn wir den Mut aufbringen, im Lauf zu stoppen, das Haupt zu erheben und hinzuschauen, und im Licht der Gotteserkenntnis das System durchschauen. Die Macht des Satans ist begrenzt, und das System, das auf diese Macht aufbaut, kann nicht von Bestand sein, denn Jesus Christus ist der Herr, das Wort Gottes, durch das alles geworden ist, und das allein Macht hat, alle Dinge zu verwandeln.

Ein kleiner Nachtrag:
Diesen Artikel habe ich in ausführlicherer Form im „Rundbrief für Charismatische Erneuerung in der Katholischen Kirche“, Heft 1 2012, veröffentlicht. Das Bild von der Marienfigur mag Nicht-Katholiken befremdlich erscheinen. Für uns Katholiken stellt sie die Menschenseele dar, die empfänglich ist für die Gnade und sich ganz von Gott durchdringen lässt und deshalb den Sohn Gottes „zur Welt“ bringt: ein Urbild für den erlösten Menschen, somit für die Kirche, deren Aufgabe darin besteht, der Welt Jesus Christus zu bringen.