3. Mai 1728: Beginn der Losungen in Herrnhut

So steht es unter der heutigen Tageslosung. Jedes Jahr etwa um diese Zeit werden in Herrnhut (Oberlausitz) die Losungen für nicht etwa das nächste Jahr, auch nicht für das übernächste Jahr, sondern für das überübernächste Jahr gezogen. So geschehen in dieser Woche am 30. April für das „Reformationsjahr“ 2017.

„Das Losungsziehen beginnt mit einer gemeinsamen Andacht aller Mitarbeitenden um 8.00 Uhr im Vogtshof, dem Herrnhuter Direktions- und Verwaltungssitz der Europäisch-Festländischen Brüder-Unität (EFBU), und wird in drei Abschnitten für jeweils vier Monate durchgeführt“, schreibt Erdmann Carstens, Öffentlichkeitsreferent der Herrnhuter Zentrale. An einem Durchgang sind mehrere Personen beteiligt: Eine Person zieht aus der Losungsschale ein Kärtchen mit einer Nummer. Eine weitere liest aus dem sogenannten Spruchgutbuch den dazu gehörigen alttestamentlichen Text vor und zwei protokollieren.

Gelost wird ja immer nur das alttestamentliche Wort. Ein dazu passender neutestamentlicher Vers sowie ein Gebet oder meistens eine Liedstrophe werden in den Folgemonaten ausgesucht und dem jeweiligen Losungswort hinzugefügt.

Im Ökumenischen Heiligenlexikon ist unter Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und seiner in Herrnhut gegründeten Brüdergemeine über die Anfänge der Losungen Folgendes zu lesen: „Jeder Tag begann mit einer Morgenandacht und endete mit einer Singstunde, am Sonntag gab es den Gemeindegottesdienst. Neue liturgische Formen wie Liebesmahle, Fußwaschung, Stundengebete rund um den Tag oder Nachtwachen wurden praktiziert; in diesem Zusammenhang entstanden 1728 auch die ‚Herrnhuter Losungen‘, erstmals für den 4. Mai dieses Jahres.“

Wie die Losungen entstanden

Etwas genauer erklärt der Zinzendorf-Kenner Dr. Dietrich Meyer gegenüber Charisma: „In der Singstunde am 3. Mai 1728, also fast ein Jahr nach der geistlichen Geburtsstunde der Gemeinde am 13. August 1727, gab Zinzendorf der Gemeinde ein kurzes Wort als Losung für den künftigen Tag mit: Liebe hat ihn hergetrieben, Liebe riss ihn von dem Thron, und ich sollte ihn nicht lieben? Bald darauf gingen ein oder mehrere Brüder durch die 32 Häuser des Ortes, um jeweils am frühen Morgen einen vorher aus einem Kästchen bei einem der Ältesten entnommenen (gezogenen) Bibelspruch oder Gesangbuchvers den Bewohnern als Tageslosung zu bringen. – Erst ab 1731 wurden sie dann auch gedruckt, damit die Brüder unterwegs oder die in andere Länder ausgesandten Missionare auch die Losung für jeden Tag hatten.“

Welche Bedeutung hatten die Losungen für Zinzendorf und die Herrnhuter?

„Zinzendorf verstand die Losungen als Anrede des gegenwärtigen Christus an uns heute“, erläutert Dr. Meyer. „Und darum suchte er immer wieder neu in der Schrift solche Worte, die als Anrede für uns heute gelten können. Es sind insgesamt heute nur ca. 1800 Bibelworte. Bald stellte Zinzendorf auch sog. Lehrtexte zusammen, um auch in etwas längere Passagen der Bibel zu bestimmten Themen einzuführen.“

Immer wieder wird allerdings die Frage aufgeworfen, ob die Worte in der Bibel im Losungsheft nicht aus dem Zusammenhang gerissen werden. Dietrich Meyer hält diese Frage für „müßig“. Zinzendorf habe ja nicht in die historischen Zusammenhänge der Bibel einführen wollen, sondern dazu verhelfen wollen, „das Wort des Auferstandenen an uns heute aus der Schrift [zu] hören.“

Gottes Wort, sehr häufig aus den Psalmen, wird also ganz bewusst aus dem historischen Kontext  entnommen, um es dann im heutigen Kontext neu zu hören.

Warum konnten die Losungen solch eine Anziehung erlangen?

Es verwundert, dass die Herrnhuter Losungen inzwischen jährlich in mehr als 50 Sprachen erscheinen. Worin mag das Geheimnis bestehen? Einige Hinweise gibt D. Meyer in seinem Aufsatz „Eine kleine Theologie der Losungen“:
„Das alttestamentliche und neutestamentliche Wort sind Zuspruch des gegenwärtigen Christus in meine Situation. Sie sind ein Ruf aus einer anderen Welt in meine augenblickliche Situation. Wer sich einmal auf einem Gletscher im Nebel verlaufen hat, wer einmal hin und her geirrt ist, immer mit dem Ziel, die richtige Spur zu finden und sich aus dem Gewirr der vielen Spuren nicht mehr herausgefunden hat, wer bald dem Gletscherabbruch ausweichen und dann wieder über schmale Gletscherbrücken nach einer Fortsetzung suchen musste, der weiß was es bedeutet, wenn eine deutliche Stimme vom Gletscherufer hinüberruft: „Komm hierher, hier ist der Weg zur Hütte, hier ist die richtige Spur“. So ist die Losung täglich neu dieser Ruf, die richtige Spur nicht aus dem Auge zu verlieren, der Ruf auf den Weg zum Ziel, zum Gipfel oder zur sicheren Hütte. Es ist der Ruf des gegenwärtigen Christus.“

Das mag etwas pathetisch klingen. Doch die Umsetzung in den Alltag soll nicht fehlen:
„Entscheidend ist, dass ich von der Wahrnehmung des Wortes zum Vollzug im Alltag, zur Umsetzung ins Leben, zum Gehorsam und zur Tat fortschreite. Die Exegese der Losung ist ihre Befolgung im Alltag, ihre Auslegung durch mein Handeln an diesem Tag … Zinzendorf erhoffte sich von der Brüdergemeine, dass wir zu einer lebendigen Bibel werden, wie es vom Heilande heißt: Dein Gesetz habe ich in meinem Herzen, so kriegt man die heilige Schrift ins Herz hinein. Wahrnehmen – einprägen – leben. Das ist der Schritt, den jede Losung mit mir gehen möchte. Ich habe die Losung dann verstanden, wenn sie mein Herz und Unbewusstes prägt …“

 

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