Mentoring und der Weinberg

Mein erster Tag im Weinberg war erfreulicherweise ein trockener Tag. Das ist beim Weinanbau in England gar nicht so selbstverständlich – besonders im Dezember.

Von Dezember bis Februar waren wir damit beschäftigt, die Weinstöcke zu beschneiden und damit so ziemlich alles, was in den Monaten davor gewachsen war, wieder zu entfernen. Ein frostiger, nebliger Frühmorgen im Weinberg hat eine romantische Schönheit – aber das Beschneiden und schier endlose Rupfen an alten Rebzweigen ist weder romantisch noch unterhaltend.

Nach dem Entfernen des Vorjahreswuchses kam dann das Anbinden der zwei Haupttriebe an die Spalierdrähte – auch ungefähr zwei Monate lang. Dazwischen immer wieder mal Unkraut entfernen, Drähte nachspannen, Gras mähen – des Öfteren im Nieselregen oder im kräftigen Schauer.

So vergehen die Monate. Die Weinstöcke treiben eifrig den neuen Wuchs voran, man sieht schon die ersten kleinen Ansätze von Trauben. Wir sind seit Wochen dabei, die Rebzweige zu stützen, indem wir sie zwischen zwei Spanndrähten sicher einklemmen. Wir achten sehr darauf, das Wachstum nicht zu hindern …

In den Tagen und Wochen seit letztem Dezember sind mir bei der Arbeit viele Gedanken gekommen, die der praktischen Arbeit im Weinberg eine geistliche Bedeutung geben und das Thema „Mentoring“ betreffen: So könnte der Weinberg für den Prozess der christlichen Jüngerschaft stehen, bei dem es letztlich auch um Frucht geht. In Johannes 15 lesen wir, wie Gott durch die Frucht eines Lebens in der Nachfolge Jesu (oder der Jüngerschaft) geehrt wird.

Wenn der Weinberg für den Prozess der Jüngerschaft allgemein steht, dann sind die Drähte ein Bild für Mentoring! Die Drähte im Weinberg formen ein Spalier, sie tragen die neu gewachsenen Rebzweige und damit letztlich auch das Gewicht der Trauben. Gleichzeitig halten sie auch das Wachstum der Weinstöcke in geordneten Bahnen, so dass die Arbeiter gut an den Weinstöcken arbeiten können, ohne sich durch einen Dschungel kämpfen zu müssen. Die Drähte sind der menschliche Anteil am Wachstum.

Die Weinstöcke tragen die Frucht, nicht die Drähte. In der Schönheit des natürlichen, organischen Wachstums der Weinstöcke ist das eigentliche Leben, doch ohne die Drähte würde es mit der Ernte schlecht verlaufen. Die Weinstöcke sind in sich selbst nicht stark genug, das Gewicht der Trauben zu tragen. Sie müssen unbedingt gestützt werden. Wenn man aber wartet, bis sie Trauben tragen und dann versucht sie zu stützen, ist es zu spät. Sie müssen schon während des gesamten Wachstumsprozesses gestützt werden. Und das gilt ohne Ausnahme, selbst der gesündeste, kräftigste Weinstock braucht die stützende Struktur der Drähte.

Was bedeutet das nun für unsere Praxis? Dass es in der Gemeinde unbedingt wachstumsunterstützende Strukturen geben muss. Es ist unablässig und gilt für jeden Jünger, dass er/ sie allein keine Frucht tragen kann. Selbst die ganz Starken (oder die so stark scheinen…), wie auch die Jüngsten und Schwächsten, für alle muss ein Draht gespannt werden.

Darf ich dir zum Schluss noch ein paar persönliche Fragen stellen?

1. Wie sieht es mit der Frucht aus in deinem Leben? Trägst du Frucht?
2. Was ist deine Frucht? In welchem Bereich des Reiches Gottes trägt dein Leben Frucht?
3. Was ist alter Wuchs in deinem Leben, der beschnitten werden müsste?
4. Bist du ausreichend angebunden, fühlst du dich unterstützt und getragen?
5. Wie erkennst du Unkraut und wie entfernst du es?
6. Bist du bei der Ernte mit dabei?
7. Freust du dich auf die Erntefeier?

Frank Hottenbacher

 

Der obige Text ist eine redaktionelle Kurzfassung eines Artikels von Frank Hottenbacher, den er für Charisma 162 (Oktober–Dezember 2012) geschrieben hat. Diese Charisma-Ausgabe, die bereits etwa Mitte September erscheinen wird, hat zum Titelthema Mentoring. Wenn Sie noch kein Abonnent sind, können Sie die Zeitschrift zum Kennenlernen hier kostenlos bestellen.